Ein Mönch befragte den Wüstenvater Siseos: "Was soll ich tun, Vater, denn ich bin gefallen?" Siseos sagte ihm: "Steh wieder auf!" Der Mönch aber klagte weiter: "Ich bin aufgestanden, aber dann wieder gefallen." Der Wüstenvater ermunterte: "Dann stehe nochmals auf und wieder auf!" Der Mönch wollte wissen: "Wie lange?" Siseos antwortete: "Bis du stirbst, sei es beim Aufstehen oder im Fallen."
Die Wüstenväter und -mütter, die in frühchristlicher Zeit ein zurückgezogenes und entsagungsreiches Leben in der Wüste führten, waren Menschen auf der Suche. Sie suchten die Begegnung mit Gott, die Ruhe des Herzens und sie bemühten sich, die Menschen zu verstehen. Sie führten ein einfaches und ganz auf das Wesentliche konzentriertes Leben. Sie versuchten, Zerstreuung und Ablenkung zu meiden, um ganz bei der Sache zu sein.
Ein solch asketisches, oft auch einsames Leben war nicht einfach zu führen. Wenn sich zwei dieser Wüstenmönche trafen, war ihre Frage daher nicht: "Wie geht es dir?", sondern: "Wo kämpfst du?" Wenn sie auch vieler Alltagssorgen und ganz sicher jeglicher Hektik enthoben waren, so mussten sie in besonders konzentrierter Form mit allem, was an Gedanken und Gefühlen in ihnen war, zurechtkommen. Sie mussten sich mit sich selbst auseinandersetzen, ohne in Ablenkung und Zerstreuung zu flüchten. Dabei haben sie Geduld und Demut gelernt. Sie haben sich nicht der Illusion hingegeben, es sei einfach, den Herausforderungen des Lebens zu begegnen. Vielmehr haben sie sich darin geübt, wachsam und bereit zu sein, wenn Traurigkeit oder Mutlosigkeit über sie kam.
Die Wüstenväter und -mütter kamen dabei zu Erkenntnissen, die bis heute von der modernen Psychotherapie noch nicht voll ausgeschöpft sind, so schätzt es der Schweizer Psychiater und Autor Daniel Hell ein. Er weist darauf hin, dass viele Menschen heute eine Nähe zu den Wüstenvätern spüren, weil sie beim Lesen ihrer Worte bemerken, dass sie selbst auf ihrem Lebensweg "in die Wüste" geraten sind. Die Weisheit dieser frühchristlichen Gläubigen, von denen uns rund 1500 Jahre trennen, kann uns bis heute anrühren und Impulse für unser Leben geben.
Besonders bemerkenswert finde ich die realistische Einschätzung der Möglichkeiten des Menschen. Ganz anders als manch heutiger Motivationstrainer oder Selbstfindungsguru rechneten die Wüstenväter mit der Schwäche des Menschen, weil sie ihrer eigenen Schwäche ins Auge geblickt und sie akzeptiert hatten. Sie verschwiegen auch nicht, dass das Leben schwierig sein kann. Sie waren demütig genug zuzugeben, dass sie selbst zu kämpfen hatten und dabei auch Niederlagen hinnehmen mussten. Ihnen ging es nicht um Erfolg und Glück. Es war für sie schon ein Schritt auf dem Weg ins Leben, jedes einzelne Mal etwas besser zu scheitern.